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Hintergrundinformationen von Dr. Jörg Riedlbauer, Kulturdezernent der Stadt Biberach

Bürgeroper

Zur Biberacher Bürgeropernproduktion 2023 von Wolfgang Amadeus Mozart „Die Entführung aus dem Serail“

 

Wenn sich am 23. September der Vorhang zur Premiere von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ hebt, geschieht dies 241 Jahre nach der Uraufführung dieses Deutschen Singspiels in Wien. Mozart setzte damit zugleich einen Meilenstein in der Entwicklung dieser Gattung, die auf Christoph Martin Wielands in Biberach entwickelter Dramentheorie aufbaut. Vergleichbar der italienischen Opernrefom Mitte des 18. Jh.  hatte auch Wielands Theorie das Ziel, die Errungenschaften der französischen opéra comique mit jenen der italienischen commedia per musica zu vereinen. Infolgedessen wurde im Deutschen Singspiel die Handlung nach französischem Vorbild nicht (wie in Italien) vom Cembalobegleiteten Rezitativ transportiert, sondern vom gesprochenen Dialog. Die Musikteile hingegen folgten den aufwändiger gearbeiteten italienischen Vorbildern. Dieses Verfahren sollte noch weit über Mozart und Wieland hinaus (leider war es ihrerzeit Anna Amalia nicht gelungen, die beiden Meister zu einem gemeinsamen Projekt zusammenzuführen) Bestand haben bis hin zur deutschen Spieloper Beethovens, Webers, Lortzings oder Nicolais.

 

Der Auftrag, nach dem Modell einer französischen opéra comique ein Deutsches Singspiel für das Hof- und Nationaltheater zu schaffen, führte dazu, dass sich Mozart wie auch sein Librettist für ein Genre entschieden, dass damals in Wien sehr beliebt war: die sogenannte „Türkenoper“. Ganz konkretes Vorbild für Mozart war Christoph Willibald Glucks Singspiel „Die Pilgrime von Mekka“. Hier wie dort spielt die Handlung im Orient; das herkömmliche Opernorchester ist durch die Hinzunahme von Becken, Triangel, Rute und großer Trommel ergänzt, und man hört melodische Wendungen, die aus der türkischen Volks- und Militärmusik stammen, wie sie die Einwohner/innen von Wien während der Belagerung ihrer Stadt 1683 hörten.

 

Diese Belagerung Wiens durch das türkische Heer mit nachfolgender Befreiung wirkte noch gut 100 Jahre später als Trauma. Dies führte ab dem Ende des 17. Jh. zu der – aus heutiger Sicht erklärungsbedürftigen – Vorführung von Theaterfiguren als Türken-Karikaturen und häufig auch zur Darstellung türkischer Potentaten als grausame Blutsauger.

 

Bei Mozarts „Entführung aus dem Serail“ allerdings haben sich die Gewichte gegenüber der früheren „Türkenoper“ schon beträchtlich verschoben. Zwar findet sich auch bei ihm in der Figur des Osmin das Stilmittel der Karikatur, aber Mozart legte die Rolle des Aufsehers über die Gärten des Bassa Selim psychologisch noch wesentlich vielschichtiger an. Und die Schlusslösung hat nun gar nichts, was einen orientalischen Herrscher in grausamem Licht zeigen würde. Dieser erscheint vielmehr als ein Souverän, welcher Vergebung ausspricht, statt Rache zu nehmen, der Milde walten lässt, statt drakonisch zu strafen.

 

Hier hat sich das Türkenbild im Sinne der Aufklärung gewandelt: Mozart lehrt die Toleranz zwischen den Kulturen und deren Versöhnung miteinander; die unmittelbare zeitliche Nachbarschaft zu Lessings „Nathan der Weise“ (entstanden 1778, uraufgeführt 1783, also nur ein Jahr nach Mozarts Singspiel) wie auch zu Wielands humanitär-kosmopoliten Haltung wird spürbar. Ein starker Grund also, die Reihe unserer Biberacher Bürgeropern Produktionen mit ebendiesem Mozart-Singspiel fortzusetzen´.

 

Seit zwölf Jahren begeistert unsere Bürgeroper Biberach Tausende von Musiktheaterfans vor, auf und hinter der Bühne. Sie ist Ausdruck unserer in Biberach seit Jahrhunderten lebendigen Bürgerkultur im Allgemeinen und unserer Verantwortung gegenüber dem kulturellen Erbe unseres größten Dichters und Denkers Christoph Martin Wieland im Besonderen, der von Biberach aus die Reform des deutschen Singspiels und infolge dessen die Entwicklung der deutschen Spieleoper betrieben hat. Dabei beließ er es nicht bei der Theorie, sondern setzte mit örtlichen Akteuren seine Vorstellungen in die Praxis um.

 

Diesem Erbe fühlen wir uns verpflichtet. Und zwar so, dass es lebendig und frisch herüberkommt. Wir wollen Wielands Ideen nicht in Ehrfurcht erstarrt als Denkmal bewundern, sondern sie innovativ mit neuem Leben erfüllen und alle dafür begeistern – das Publikum gleichermaßen wie die Mitwirkenden.

 

„KoOPERation“ ist dann auch das Schlüsselwort für unsere Opernaktivitäten, wenn wir Biberachs Profil als Spielstätte des deutschen Singspiels und der deutschen Spieloper weiter schärfen. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil kaum mehr ein Theater in Deutschland das Singspiel und die Spieloper systematisch pflegt. Auf diese Weise können wir unser Musiktheater-Profil vor Ort schärfen, ohne mit nahegelegenen Opernhäusern in unsinnige Konkurrenz zu treten. 

 

Wir tun dies nicht mit irgendwelchen beliebigen Musiktheater Events, die von außen importiert als Tournee-Wanderzirkus quer durch die Republik präsentiert werden, sondern mit Eigenproduktionen, an denen unsere städtischen Kultureinrichtungen gleichermaßen beteiligt sind wie professionelle Bühnenkünstler/innen, theatererfahrene Amateure, kulturtragende Vereine unserer Bürgerschaft, die Schulen vor Ort und die Kirchen. Damit machen wir zugleich deutlich: Oper ist kein Luxusvergnügen für den Lifestyle einer elitären Minderheit, sondern gelebte Bürgerkultur!

 

Mit Lortzings „Wildschütz“ haben wir 2011 die Reihe der Bürgeroper Biberach gestartet, gefolgt von Otto Nicolais „Lustigen Weibern von Windsor“ und Beethovens „Fidelio“. Passend zu den Heimattagen Baden-Württemberg in Biberach 2023 setzen wir jetzt Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Szene, deren Handlung um den Verlust von Heimat, Flucht, Fremdsein und Vertreibung kreist.

 

Ein weiterer Aspekt verlangt geradezu die Inszenierung der „Entführung“ in Biberach: Nur fünf Jahre nach der Uraufführung in Wien vertonte „unser“ Justin Heinrich Knecht dasselbe Textbuch wie Mozart. Und man wagt es kaum zu denken oder gar zu glauben: Einige (wenige) von Knechts Musikteilen zeigen tatsächlich tiefer empfundenes Mitgefühl mit den handelnden Personen, da sie nicht so routiniert wie Mozarts Vertonung derselben Textpassagen wirken. Seien Sie neugierig – wir haben nämlich besagte Mozart-Nummern durch jene von Justin Heinrich Knecht ersetzt. Ein Sakrileg? Mitnichten – sondern gängige Theaterpraxis im 18. Jahrhundert!

 

Sehr herzlich

 

Ihr

 

Dr. Jörg Riedlbauer, Kulturdezernent der Stadt Biberach